Schuldgefühle können ein Schutzmantel sein
Einige der hartnäckigsten Schuldgefühle trotz erwiesener Unschuld, die Helga Kernstock-Redl in den letzten Jahren begegnet sind, enttarnten sich im Lauf der Zeit als Schutzmantel gegen erschreckende, belastende, vielleicht verbotene Gefühle. Wer beständig und intensiv über seine Schuld an einem Verlust nachdenkt, vermeidet vielleicht, den noch schwierigeren Weg durch die Trauer betreten zu müssen. Helga Kernstock-Redl erläutert: „Sobald sich der eigene Anteil an einem Unglück innerlich überbreit macht, bleibt der Ärger auf die anderen Schuldigen im Hintergrund.“ Solche schützenden Gefühle sind kurzfristig nützlich. Doch über längere Zeiträume binden sie wertvolle Aufmerksamkeit und Energie, blockieren nützliche Entwicklung oder lenken Lösungsversuche in eine falsche Richtung. Es hilft auf Dauer nicht weiter, sich mit der Ablenkung zu beschäftigen. Helga Kernstock-Redl ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Psychologie der Gefühlswelt.
Eine Strategie der Vermeidung führt ins Grübeln
Ähnliches gilt für Kontrollillusionen, die Schuldgefühle als Nebenprodukt liefern. Das menschliche Gehirn durchstöbert die Außenwelt beständig nach Ursachen und Einflussmöglichkeiten und findet sie – speziell in der Not – selbst dort, wo es gar keine geben kann. Denn die Anerkennung einer eigenen Schuldlosigkeit würde automatisch bedeuten, akzeptieren zu müssen: „Ich kann daher auch nichts daraus lernen, nichts besser und nichts anders machen. Es kann mir jederzeit wieder passieren.“
Helga Kernstock-Redl weiß: „Allerdings führt diese Vermeidungsstrategie mitten hinein in das Grübel-Übel: Vielleicht könnte die Lösung ja noch gefunden werden, wenn man sich nur richtig stark darum bemüht, den eigenen Anteil, den Fehler, die übersehenen Anzeichen zu finden?“ Die Akzeptanz der Ohnmacht und der Trauer ist zwar ein steiniger, doch letztendlich nützlicher Weg, um sich davon zu befreien. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber manchmal muss man sie regelrecht erschlagen, um sie begraben zu können.
Kinder sind nicht für die Stimmungen der Erwachsenen zuständig
Sollte jemand vermuten, dass sich hinter dem Schuldgefühl ein anderes verbirgt, kann folgende Frage weiterhelfen: „Was würde wohl passieren, wenn das Schuldgefühl wie durch Zauberei verschwindet?“ Manche Menschen lassen sich ziemlich schnell Schuld einreden. Das trifft besonders Kinder, hilfsbereite oder liebende Erwachsene, die gern die Erwartungen anderer erfüllen wollen. Doch wohl jeder lässt sich hin und wieder von gut gemachten Vorwürfen überrumpeln.
Und außerdem ist in Stress- und Notsituationen sowieso jedes Gehirn hochgradig anfällig dafür, wie die Schuldübernahme in traumatischen Katastrophen zeigt. Helga Kernstock-Redl warnt: „Kindern darf man keinesfalls falsche Ursachen-Schuld überstülpen oder schädigende moralische Regeln vermitteln. Sie würden das unbesehen glauben müssen.“ Kinder sind auch nicht für die Entscheidungen und Stimmungen der Erwachsenen verantwortlich, können sich selbst nur unzureichend steuern und haben keinerlei Einfluss darauf, was sie selbst brauchen und fühlen. Quelle: „Schuldgefühle“ von Helga Kernstock-Redl
Von Hans Klumbies